Kein Mensch

Das erste Frühlicht schien durch die hohen Fenster und spiegelte sich auf dem schwarzen Parkettboden. Das tiefrote Muster an den Wänden konnte man noch kaum als rot erahnen. Blass schimmerte der Sekt in den Gläsern. Zinnia schaute suchend zwischen den Gestalten herum, die sich leise redend durch den Saal bewegten, die Damen in schweren dunklen Samtkleidern, die Herren mit Stehkragen und hoch ausrasierten Haaren. Zinnia wollte eine bestimmte Uniformjacke finden, ein bestimmtes Paar silberner Creolen, ein bestimmtes Paar heller Augen und ein bestimmtes Bewegungsmuster: trotzig-abwehrend, behende und kraftvoll.
Tanha Rayd war schon seit vielen Wochen nicht mehr aufgetaucht. Er hatte kaum Freunde, und nur selten traf Zinnia jemanden im Ballsaal, der ihn kannte. Zinnia hoffte dann immer, etwas über Tanha zu erfahren, aber keiner wußte etwas. Auch der bleiche Cay-Thyl mit dem straff gebundenen Zopf und dem langen schwarzen hochgeschlitzten Lackrock hatte Tanha schon lange nicht mehr gesehen. Dieses Mal hatte Cay-Thyl jedoch für Zinnia eine Platine mitgebracht, die von einem zerlegten Androiden stammen sollte.
"Die hat Tanha mal gehört, glaube ich", erzählte Cay-Thyl. "Ich finde, sie sieht ein bißchen aus wie eine Stadt, mit Straßen und Häuschen."
Zinnia tastete die Platine ab, als wollte sie die verschlungenen Wege nachgehen, die kein menschliches Wesen je würde betreten können.
Die Leute tanzten in langen Reihen zu einem Rhythmus, der aus einer Industrieanlage zu kommen schien und sie alle in gleichförmigen Bewegungen vereinte. Der Saal schien sich zu öffnen in eine endlose Ferne, die nach Zinnia rief und sie mit sich ziehen wollte.
Während Zinnias Hand den Straßenzügen auf der Platine folgte, geriet Zinnia unversehens ins Innere dieser fremden elektronischen Welt. Schattengrau erhob sich eine Stadt um sie herum.
"Wie ist mir das nur gelungen?" dachte sie. "Ich habe mich so danach gesehnt, diese Welt kennenzulernen, und umso weniger habe ich daran geglaubt, es zu schaffen."
Zinnias Schritte hallten auf dem Betonpflaster. Sie ging an einem Hafenbecken vorbei. Man sah kein Schiff, keine Menschenseele, es war nur ein dumpfes Rauschen zu hören, als wenn irgendwo Maschinen liefen. Regentropfen fielen auf die bleifarbene Wasserfläche. Zinnia hielt Ausschau nach einem Wegweiser, einem Firmenschild oder Straßenschild. Dabei gelangte sie auf eine eigenartige Plattform. Es erklang ein kreischender Alarm, und Zinnia fand sich im Ballsaal wieder.
"Da bist du wohl jemandem zu nahe gekommen", meinte Cay-Thyl. "Versuche es noch einmal."
Zinnia tastete sich zurück in den stillen Hafen und achtete darauf, solche "verbotenen Zonen" nicht mehr zu betreten. Sie gelangte auf eine Straße, die von Leben erfüllt schien, aber es war auch hier kein Mensch zu sehen. Die Häuser ragten auf als dunkle Quader, ihre Flure führten über die Straße hinweg und schluckten noch von dem wenigen Licht, das die dichte Wolkendecke herunterließ. Zinnia lauschte einem Rhythmus, der sie an die Klänge auf der Tanzfläche erinnerte.
"Maschinenmusik für Maschinenmenschen", dachte sie. "Auch der Mensch ist ein Apparat, er folgt den Gesetzen der Physik. Das Lebendige folgt dem Rhythmus."





© Lichtwind

Sound aus: Lichtwind - "M-Phasis"



Zinnia kam an eine gewaltige Brücke, über die der Verkehr dröhnte. Sie sah die weißen Stirnseiten der Wohnblöcke, sie lauschte dem Rufen der Menschen und dem Lärm der Motoren und der vorbeirauschenden Züge. Als sie aber auf der Brücke anlangte, war dort alles leer.
"Sie sind so nah", dachte Zinnia, "und doch erreiche ich sie nicht, und ich kann nirgendwo nach Tanha fragen."
An einem öffentlichen Fernsprecher wählte sie Tanhas Nummer.
"Ich hatte dir versichert, ich rufe dich nie von mir aus an, damit du mir nicht vorwerfen kannst, daß ich dir nachlaufe", sagte Zinnia zu dem Anrufbeantworter, "aber ich bin hier in deiner Platine, ich gehe auf deinen Wegen, und diese Platine hat Cay-Thyl mir geschenkt, die habe ich mir nicht selbst genommen."
Tanha hatte sich heftig gewehrt, als er Zinnias Hand auf seiner Wange fühlte.
"Laß' das, ich werde schwach", hatte er gerufen, "und ich will nicht schwach werden."
"Was habe ich in dir bewegt?" fragte Zinnia in die kalte Luft. "Ich muß es herausfinden. Ich will dich finden, dich hier finden."
Zinnia kam in ein Industriegebiet mit weiten, verlassenen Straßenzügen. Die wenigen Fenster waren vergittert. An den Ecken der Hallen brannten Scheinwerfer. Kirchenglocken läuteten, durch den Nebel gedämpft. Es war wohl nur ein Stundengeläut, denn Zinnia sah niemanden zu der Kirche hingehen.





© Lichtwind

Sound aus: Lichtwind - "M-Phasis"



Der Friedhof hatte ein eigenes Kapellchen, in dessen Turm läutete die Totenglocke. Die Grabsteine standen in einer flachen Senke, umflossen vom Bodennebel. Ihr stumpfes Grau, ihre unscharfen Konturen ließen die Vorstellung entstehen, es handle sich um lauter Menschen, die hier reglos und still auf etwas warteten.
Zinnia ging zwischen den Reihen hindurch und las die Namen der Verstorbenen. Sie fand Tanha unter all jenen, die ihr so nah waren wie kein anderer in dieser verwunschenen Stadt, und die sie doch nicht erreichen konnte.
"Tanha Rayd, 1971 - 1998" war in den Stein graviert.
"Es gibt ihn gar nicht mehr", dachte Zinnia, "und ich will ihn doch sehen. Wie kann ich ihn nur sehen?"
Ihr Weg führte sie zu einer Spielzeugfabrik, mit hohen Backsteinmauern, die vom Straßenstaub dunkel gefärbt waren. Das Lamellentor sah aus, als hätte man es schon seit Jahren nicht mehr geöffnet. Als Zinnia aber verschiedene Schalter probierte, fuhr es langsam hoch. Zinnia betrat das rauchgraue Innere der Halle. Sie sah Kabelgewirr und Laufbänder, die sich ruckartig bewegten. In großen Drahtkörben lagen Tiere aus Fell und Holz. Eine Spieluhr klimperte leise. Vor Zinnias Augen tauchte die Erinnerung an eine Zierpuppe auf, eine weißgesichtige Ballerina mit langen Korkenzieherlocken, die auf einer solchen Spieluhr befestigt war und sich immerfort drehte und drehte.
Es mußte jemanden geben, der sie aus ihrem Porzellandasein erlöste, aber Zinnia hatte nie gewußt, wer das sein sollte ... bis ihr Tanha begegnete.
In der Fabrikhalle sah Zinnia auch Platinen herumliegen, wie eben die, welche sie in diese Stadt geführt hatte. Und sie sah die stählernen Skelette von Androiden, die sich Schritt um Schritt zu menschenähnlichen Körpern formten. Robotergreifer zogen ihnen schwarze Uniformjacken an und schmückten sie mit schweren silbernen Creolen. Zinnia blickte in Tanhas Gesicht, dutzendfach; es hatte immer denselben ruhigen, unbeteiligten Ausdruck, immer dieselben starren gläsernen Augen, eine schwarze Pupille in einem hellen Rund. Es waren die geliebten Züge, aber die Welt um sie herum berührte sie nicht, sie lebten in einem düsteren Nirgendwo, ohne Leid und ohne Freude.
"Ich weiß es jetzt, Cay-Thyl", sagte Zinnia, "Tanha war ein Android, und ich halte seine Seele in den Armen."











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